Abschluss der Berliner Kältehilfe 2023 – Wie können obdach- und wohnungslose Menschen mit psychischen Erkrankungen besser versorgt werden?

Berlin, 18. April 2023

 

20230417 Abschlussveranstaltung Kaeltehilfe 2023 Diskussion geschnittenNachdem ein Großteil der Angebote der Berliner Kältehilfe bereits Ende März wieder schließen mussten, ziehen die Mitarbeitenden der Koordinierungsstelle der Berliner Kältehilfe (Koord. KH) der GEBEWO pro Resümee: Sie hatten am Montag, den 17.04.2023, zur Abschlussveranstaltung der Kältehilfe in den Gemeindesaal der Fürbitt-Melanchthon-Kirche in Neukölln eingeladen.

 

Übernachtungsplätze zu über 90 % ausgelastet

"Wir sind am Limit gelaufen“, fasst Jens Aldag (Koord. KH) die angespannte Situation der letzten Monate zusammen: Über die Kältehilfeperiode 2022/23 waren die Übernachtungsplätze im Durchschnitt zu über 90% ausgelastet. In den Monaten Februar und März 2023 lag die durchschnittliche Auslastung sogar bei beinahe 95%, was faktisch bedeutet, dass in vielen Nächten die Einrichtungen überbelegt waren oder Menschen abgewiesen werden mussten. „Der Bedarf an Notübernachtungsplätzen steigt seit Jahren weiter an. Die weiterhin schwierige Immobiliensituation in Berlin, der Fachkräftemangel sowie der zusätzliche Bedarf an Unterbringungsmöglichkeiten für die vor Krieg aus der Ukraine geflüchteten Menschen verschärfen die Situation zusätzlich.“ Weitere Zahlen und umfangreiche Auswertungen finden Sie auf der Webseite der Kältehilfe: www.kaeltehilfe-berlin.de/informationen/erlaeuterungen 

Grußworte sowie Musik des Straßenchors

Neben Grußworten der Berliner Sozialsenatorin Katja Kipping und von Pfarrer Jan von Campenhausen der evangelischen Gemeinde Fürbitt-Melanchthon, die während der Kältehilfe ein Nachtcafé betreibt und den Gemeindesaal für die Veranstaltung bereitstellte, präsentierte der Straßenchor fünf Stücke seines aktuellen Programms plus Zugabe. Anschließend moderierte Christin Fritzsche (Koord. KH) die Impuls- und Vortragsreihe.

20230417 Abschlussveranstaltung Kaeltehilfe 2023 Grusswort Kipping geschnitten

    20230417 Abschlussveranstaltung Kaeltehilfe 2023 Grusswort von Campenhausen geschnitten

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Psychische Erkrankungen nehmen zu

Bereits im ersten Redebeitrag machte Juri Schaffranek (Streetworker, Gangway e.V.) auf die Notwendigkeit aufmerksam, obdach- und wohnungslose Menschen mit psychischen Erkrankungen stärker in den Blick zu nehmen: „Wir schätzen bei ca. 3.000 jährlichen Kontakten die Anzahl der Menschen mit psychischen Auffälligkeiten, Störungen und Erkrankungen auf 80%. Die Anzahl hat enorm zugenommen.“ Viele dieser Menschen seien sehr schwer erreichbar und so beeinträchtigt, dass sie nicht einmal mehr Notübernachtungen aufsuchen könnten. Allerdings, so Schaffranek, seien sie deswegen noch lange nicht „freiwillig obdachlos“, wie manchmal behauptet würde.

Mit Blick auf die Statistik aus Deutschland und anderen Ländern sieht Dr. Stefanie Schreiter (Oberärztin in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité und Leitung AG Mental Health Care Research for vulnerable groups) diese Zahl bestätigt. Zu den häufigsten Erkrankungsbildern gehörten Suchterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen, affektive Erkrankungen wie Depressionen und Manie sowie Psychosen: „Zu den größten Risikofaktoren zählen frühkindliche Traumatisierung sowie Stigmatisierung und Diskriminierung; auch im Hilfe- bzw. Gesundheitssystem“.

David Stork (Psychiater und Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienst im Gesundheitsamt Mitte - SpD) gab auf dem Podium Einblicke in die Möglichkeiten sowie Grenzen des SpD.

Dr. Luciana Degano Kieser (Landesbeauftrage für Psychische Gesundheit - Sen-WGPG) beschrieb das vorhandene Hilfesystem und dessen Lücken in der niedrigschwelligen Versorgung psychisch erkrankter, obdachloser Menschen. Zuständigkeiten und Verfahrensweisen zwischen den Rechtskreisen, Hilfesystemen und Bezirken machten Zugang und effektive Hilfe oft schwierig.

Housing First als positiver Ansatz20230417 Abschlussveranstaltung Kaeltehilfe 2023 Podium04 Lutoslawska geschnitten

Dagmara Lutoslawska (Psychologin im Projekt Housing First Berlin) gab einen positiven Impuls aus der Praxis und berichtete, wie obdachlose, psychisch erkrankter Menschen von psychologischer Beratung und vom Ansatz Housing First profitieren können, allerdings auch, wie schwierig ihre Vermittlung in die reguläre Eingliederungshilfe ist.

Hohe Aufmerksamkeit macht Hoffnung

Die anschließende lebhafte Diskussion zeigte: Das Thema ist relevant – deutlich über 100 Menschen waren zur Veranstaltung gekommen – und es braucht dringend neue Lösungen statt nur immer stärkere Beschreibungen. Einig waren sich die Teilnehmenden, dass obdachlose, psychisch erkrankte Menschen vor allem mehr aufsuchende, insbesondere auch psychiatrische Unterstützungsangebote dort benötigten, wo sie sich aufhielten. Eine Verbesserung der Versorgung wird nur durch eine gemeinsame Kraftanstrengung aller Akteur*innen möglich sein, bei der die Entscheidungsträger*innen auf struktureller und politischer Ebene ihrer Verantwortung gerecht werden müssen.

Moderatorin Sabrina Niemietz (Koord. KH) wertete es zum Abschluss positiv, dass das Thema aktuell hohe Aufmerksamkeit habe und sich gleich mehrere interdisziplinäre Arbeitsgruppen mit besseren Vernetzungsmöglichkeiten und neuen Lösungsansätzen beschäftigten.

20230417 Abschlussveranstaltung Kaeltehilfe 2023 Plenum Chor geschnitten